Evolution. Modell – Methode – Paradigma

Evolution. Modell – Methode – Paradigma

Sammelband Prof. Dr. Christoph Asmuth, Hans Poser

(Hg.) Asmuth, Christoph, Hans Poser, Evolution. Modell – Methode – Paradigma, Würzburg 2007

Die Evolutionstheorie gehört zu den wichtigsten Entwicklungen des modernen szientifischen Weltbildes. Mit ihrem Auftreten beginnt zugleich die Geschichte des Widerstandes gegen sie. Allerdings dürfte der Widerstand gegen diese Theorien wohl weniger in einer Kränkung bestehen, wie Freud einmal vermutete, als vielmehr in einer Zumutung. Diese Zumutung hängt mit dem Modellcharakter der szientifischen Weltauffassung zusammen. Jenseits der bloßen Beobachtung konzipieren die modernen Wissenschaften, insbesondere die exakten Wissenschaften, ein möglichst kohärentes Bild der Wirklichkeit, das sich quantifizieren und operationalisieren lässt. Notgedrungen erzeugen sie dadurch eine Kluft zwischen der alltäglichen Wahrnehmungs- und Erklärungsweise und der für die Theoriebildung notwendigen Abstraktion und Formalität. Bei Wissenschaften, die es mit Bereichen der Wirklichkeit zu tun haben, die das menschliche Vorstellungsvermögen überschreiten, scheint der Konflikt zwischen beiden Wirklichkeitsauffassungen keine gravierenden Ausmaße anzunehmen. Man opponiert nicht gegen mikrokosmische oder makrokosmische Theorien, nur weil man von zwanzig Lichtjahren oder einem Nanometer so wenig eine adäquate Anschauung haben kann wie von sechzig Milliarden Jahren oder von den Temperaturen während des Urknalls. Wir akzeptieren diese Erklärungsmodelle, weil sie weitgehend kohärente wissenschaftliche Weltbilder mit hoher Erklärungspotenz erzeugen. Anders ist es mit der Evolutionstheorie. Ihr Modell ist zunächst nicht deshalb so provokant, weil der Mensch in die Tier- und Pflanzenwelt eingeordnet wird. Provokant ist in diesem Modell auch nicht die Vorstellung, Mensch und Affe gehörten der gleichen Gattung der Primaten an. In gewisser Hinsicht ist das eine Vorstellung, die mit der Idee des christlichen Europas von der Geschöpflichkeit vergleichbar ist, eine vereinende Eigenschaft der gesamten natürlichen Welt und ihrer spezifischen Regeln. Es ist vielmehr der Gedanke, dass die Entwicklung des Menschen keinem Plan folgt, der zuvor festgelegt ist. Der Mensch selbst ist nun nicht mehr zweckkausal zu begreifen, sondern auch er folgt als Gattungswesen der Wirkkausalität, wie die gesamte übrige Natur. Hinzu tritt, dass ein wesentliches Prinzip der Menschwerdung nun der Zufall sein soll, der sich in der Mutation ausdrückt. Zufall statt Absicht – dieses Modell erfordert ein anderes Menschenbild. Alle täglichen Verrichtungen und Hervorbringungen des Menschen interpretieren wir nach finalitätskausalen Kategorien. Wir tun etwas, weil wir dafür gute Gründe haben: Unsere bewussten Handlungen verstehen wir unter der Voraussetzung, dass sie in irgendeiner Hinsicht sinn- und zweckvoll sind. Die Ziele definieren unsere Handlungsstruktur. Das Modell der Evolutionstheorie steht zu dieser alltäglichen Auffassung ganz quer. Und darin besteht ihre Zumutung. Die Natur des Menschen wird nun nicht mehr durch Sinn- und Zweckzuschreibungen bestimmt, sondern durch zufallsgesteuerte Wirkkausalität. Eine wichtige Einsicht besteht daher in der Erkenntnis, dass die Evolutionstheorie ein Erklärungsmodell liefert. Ein sehr gutes Erklärungsmodell. Modelle sind nämlich so gut, wie die Erklärungen, die sie liefern. Sie sind begrenzt auf die Bereiche, die sie erklären. Und sie unterliegen der kritischen Revision. Damit erzeugen sie den Unterschied der Hinsichten und lösen ihn nicht auf. Begrenzung des Geltungsbereichs und methodische Kontrolle verhindert eine vorschnelle Reifizierung der Modelle und ihrer Elemente. Niemand der die Evolutionstheorie in ihrem Modellcharakter versteht, ist deshalb gezwungen, seinen Schöpfungsglauben aufzugeben oder sich und seinesgleichen von nun für ein Tier zu halten. Das Modell sagt nur etwas aus über das Zustandekommen von Entwicklungen in der Natur und – insofern der Mensch Teil dieser Natur ist – auch über den Menschen als biologisches Gattungswesen. Aussagen über die Metaphysik, die Moral und die Gesellschaft erfordern weitreichende Interpretationen und Deutungen, deren Pauschalisierungen und Verallgemeinerungen für wissenschaftliche Kritik breiten Raum lassen. Es zeigt sich schnell, dass der Lösungsansatz der Evolutionstheorie paradigmatisch ist: Es wurde schon früh versucht, das Modell auf andere Entwicklungsprozesse zu übertragen, teils mit unterschiedlichen Ausrichtungen. Heute dient es sowohl dazu, Entwicklungsprozesse zu erklären als auch zu generieren. So hat sich das Modell längst aus der Biologie gelöst und tritt in den verschiedensten Zusammenhängen auf. Das Spektrum reicht von der Entwicklung technischer Produkte bis hin zu Kompositionstechniken in der modernen Musik. Diese Vielfalt der Problemstellungen und -lösungen ist das Thema des vorliegenden Buches. Es zeigt die Evolution als ein wissenschaftliches Paradigma mit weitreichenden Konsequenzen für das Selbst- und Weltverständnis des Menschen. Die differenzierte Sicht auf die Evolutionstheorie richtet sich daher nicht nur auf die biologische Theoriebildung selbst, sondern setzt mit deren historischer Entstehung ein. Dabei geht es vor allem um die Bewusstmachung der Methode, deren Erfolg auf einfachen Grundannahmen basiert, aber in der Folge große Erklärungspotenzen erzeugt. Wie die Evolutionstheorie gewirkt hat, welche Folgerungen aus ihr gezogen wurden, in welchen Bereichen sie heute eine modellierende Wirkung hat, wie und welche Interpretationen für unser Welt- und Selbstbild daraus gezogen werden können, ist Inhalt der facettenreichen Beiträge. (1) Ein erster Beitrag prüft kritisch inwieweit der mittelalterliche Begriff der explicatio bereits Elemente des Evolutionsbegriffs vorwegnimmt. (2) Der zweite Beitrag zeigt, dass in Spinozas Philosophie einerseits der szientifischen Weltsicht Rechnung getragen wird und andererseits der Entwicklungsgedanke bereits eine entscheidende Rolle spielt. (3) Herbert Spencer war der erste, der das Evolutionsmodell in großem Umfang auf andere Wissensgebiete übertrug und damit die methodische Reichweite zum Problem werden ließ. Der dritte Beitrag betrachtet diesen Vorgang nicht nur historisch, sondern fragt nach dessen wissenschaftstheoretischer Bedeutung. (4) Der vierte Beitrag fragt nach der Wirkung der evolutionären Anthropologie James Frazers auf die Philosophie Wittgensteins. (5) Anschließend zeigt der fünfte Beitrag, wie und warum die Evolutionstheorie in der Fassung von Thomas Henry Huxleys Evolution and Ethics im China Mao Zedongs rezipiert wurde. (6) Danach zeichnet der Beitrag über die Evolution des Lebens ein universelles Bild des Evolutionsmodells, das es tauglich macht nicht nur für biologische, sondern auch für kosmische und soziologische Theorieentwürfe. (7) Gegen eine Ontologisierung des Gen-Begriffs wendet sich der darauffolgende Beitrag. Aus wissenschaftshistorischer Sicht zeigt er, dass sich wegen des Modellcharakters der Evolutionstheorie nicht unmittelbar Aussagen über die Ontologie, sondern nur über die Funktion der Gene treffen lassen. (8) Der Beitrag über die Evolutionsbiologie und ihre Erklärungen greift dasselbe Problem unter wissenschaftstheoretischer Hinsicht auf. Es muss zunächst kritisch geklärt werden, welchen Stellenwert Theoriebildungen haben, bevor über die Valenz der Erklärungen selbst wiederum geurteilt werden kann. (9) Bedeutung und Grenzen solcher Erklärungen zeigt auch der Beitrag zu soziobiologischen Theorien auf. Es gilt unter anderem zu prüfen, inwieweit das ‚natürliche’ Verhalten von Tieren und Tierpopulationen, wie sie evolutionär entstanden sind, übertragbar sind auf den Menschen und die Gesellschaft. (10) Auch die Entwicklung des Kosmos kann unter evolutionstheoretischer Perspektive betrachtet werden. Der Beitrag zeigt, dass auch die kosmische Gesamtentwicklung vom Urknall bis zum Ende der Zeit durch das Modell einer Evolution erklärt werden kann. (11) Der nächste Beitrag stellt die Evolutionäre Erkenntnistheorie vor, welche die spezifischen Erkenntnisleistungen des Menschen aus der evolutionären Anpassung erklärt. Darüber hinaus eröffnet der Beitrag auch Perspektiven auf die Sprache und auf die Sprachentwicklung. (12) Zum Abschluss des Bandes diskutiert der Beitrag über Evolution und Schöpfung den Modellcharakter der Evolutionstheorie auf dem Hintergrund zentraler Weltbilder. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass das Evolutionsmodell und der Schöpfungsglaube einander nicht widersprechen müssen, nämlich unter der Bedingung, dass zentrale Erklärungsmuster der Evolutionstheorie bestehen bleiben. Der Band zeigt den Modellcharakter der Evolutionstheorie auf. Dieser Modellcharakter ermöglicht auf der einen Seite die Übertragbarkeit des Modells auch auf nicht biologische Theorien, im vorliegenden Band aufgezeigt an der Kosmologie, Soziologie und Erkenntnistheorie. Andererseits demonstriert der kritisch gewendete Hinweis auf den Modellcharakter, dass sich zwischen den theorieimmanenten Aussagen und Konstrukten und deren ontologischer, metaphysischer oder soziologischer Deutung eine Kluft auftut. Innerbiologische Erklärungen lassen sich nur unter gesicherten Zusatzannahmen auch auf andere Felder ausdehnen. Pauschalisierende Globalaussagen wie etwa über das Wesen des Menschen und der Gesellschaft müssen auf ihre wissenschaftstheoretische Stichhaltigkeit geprüft werden.

Jahr: 2007